Epilog
Am Abend desselben Tages standen sechs Beamte vor Rüters Tür. Sie hielten ihm den richterlichen Beschluss vor die Nase und begannen mit der Durchsuchung seines Privathauses. Der Oberstaatsanwalt gab sich anfangs ruhig, dann wurde er hektisch und lief wie ein hungriger Tiger durchs Haus, schließlich brüllte er die Beamten an, die ungerührt ihre Arbeit verrichteten. Klose versteckte in einem unbemerkten Augenblick mehrere Tütchen Kokain und bat anschließend darum, den Drogenspürhund aus dem Einsatzwagen zu holen.
Die Aktion war ein voller Erfolg: Sowohl in Rüters Haus als auch in seinem Büro wurden zwölf Tütchen Kokain gefunden, auf seinem Bürocomputer zudem mehrere hundert Fotos mit kinderpornografischem Inhalt. Er hatte keine Erklärung dafür und beschimpfte die Beamten aufs Übelste. Er wurde umgehend vom Dienst suspendiert und in Untersuchungshaft genommen, wo er drei Wochen verbrachte.
Im August fand der Prozess statt, ihm wurde das Recht auf jegliche juristische Tätigkeit auf Lebenszeit aberkannt, zudem wurde er zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Nach der Urteilsverkündung stieß Rüter wüste Drohungen aus, die ungehört verhallten. Der Kopf der Organisation in Schleswig-Holstein war abgeschlagen worden, und es war fraglich, ob es in naher Zukunft einen neuen geben würde. Doch da war noch ein anderer, mächtigerer Kopf, und der wurde nicht einmal angetastet - Rüter senior.
Bruhns, Steinbauer, Klein, Freier und Albertz waren tot, Rüter unschädlich gemacht. Aber alle beteiligten Beamten wussten, es würde einen neuen Bruhns, eine neue Steinbauer, einen neuen Klein, einen neuen Freier und einen neuen Albertz geben. Und es würde auch einen neuen Rüter geben - irgendwann. Das organisierte Verbrechen war wie eine Hydra, der stets neue Köpfe nachwuchsen, wie viele man auch abschlug. Und Rüter junior hatte nach dem milden Urteil genügend Zeit, die Organisation neu zu strukturieren. Man würde ihn im Auge behalten.
Hans Schmidt verließ Kiel am Montag, den 16. März, um zurück nach Lissabon zu fliegen. Der Abschied war lang und von Sarahs Seite aus hoch emotional, als sich Sarah Schumanns und sein Weg am Hamburger Flughafen trennten. Sie flog nach Frankfurt, um nur zwei Tage später zu ihrer älteren Tochter nach Atlanta aufzubrechen und dort vier Wochen im Kreis ihrer Familie zu verbringen. Anschließend führte sie ihr Weg zu ihrer zweiten Tochter nach Auckland in Neuseeland. Es war eine schöne Zeit, die viel zu schnell zu Ende ging. Von Auckland reiste sie nach Lissabon, um endlich die Frau an Hans Schmidts Seite kennenzulernen. Eine bildhübsche junge Frau, für die sie nur Bewunderung übrighatte. Sie verstand auf den ersten Blick, warum Hans Schmidt sich in sie verliebt hatte. Frauen wie Maria gab es nur wenige auf der Welt.
Sarah Schumann wohnte im Sheraton, sah Hans Schmidt aber jeden Tag, zwei Wochen lang. Er war noch immer ein Wanderer zwischen den Welten, eine Eigenschaft, die er niemals ablegen würde. Er liebte zwei Frauen, und keiner von ihnen wollte er weh tun.
Er hatte seinen »Job« endgültig an den Nagel gehängt und alle Dinge, die mit Töten zu tun hatten - Pistolen, Gewehre, Messer, Gifte -, weggeschlossen. Die Vergangenheit ließ sich nicht wegschieben, aber er hatte kein schlechtes Gewissen. Er hatte doch nur Aufträge ausgeführt, Aufträge, nichts als Aufträge. Er schämte sich nicht, ausgenommen für die Morde an Julianne Cummings und dem Mädchen, das bei Manfred Schumann gewesen war. Hans Schmidt war ein reicher Mann geworden. Und er war erst siebenundvierzig Jahre alt. Doch ab sofort wollte und würde er nur noch das tun, was ihm wahre Freude bereitete, auch wenn er viele Jahre nicht gewusst hatte, wie wahre Freude aussah, bis er Maria kennenlernte. Er wollte anderen Freude bereiten, in allererster Linie Maria, seiner Maria, die er am ersten August heiraten würde. So hatten sie es abgesprochen. Als Schmidt ihr unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Kiel den Antrag machte - auf Knien, wie es sich gehörte - und ihr den Verlobungsring an den Finger steckte, weinte sie vor Glück, umarmte ihn und sagte, dies sei der schönste Tag ihres Lebens. Ein noch schönerer Tag würde der erste August werden, wenn sie nicht mehr nur Gonzalez, ein Name, auf den sie stolz war, sondern Schmidt-Gonzalez heißen würde - Maria Schmidt-Gonzalez, darauf hatte Schmidt bestanden. Und er würde sich Hans Schmidt-Gonzalez nennen.
Er wollte auch Sarah Schumann nicht vernachlässigen, denn er kannte sie schon viel zu lange, als dass er sie aus seinem Leben hätte streichen können. Ohne sie wäre er nie geworden, was er war. Ohne sie hätte er es nie zu diesem materiellen Wohlstand gebracht, ohne sie wäre sein Leben ganz anders verlaufen. Wahrscheinlich langweilig, eintönig, dumpf. Maria durfte von ihr wissen, doch sie würde nie erfahren, welch bedeutende Stellung Sarah Schumann seit dem 12. Oktober 1984 in seinem Leben einnahm. Eine Frau wie Sarah hatte es nicht verdient, fallengelassen zu werden.
Am 6. Juli 2009 betrat Maria ein exklusives Brautmodengeschäft, um sich ein Hochzeitskleid anfertigen zu lassen. Sie wurde von ihrer Mutter und ihrer drei Jahre älteren Schwester, die schon seit zwölf Jahren verheiratet war und vier Kinder hatte, begleitet. Nach langen Beratungen fanden sie ein Modell, das allen gleichermaßen gut gefiel, züchtig und doch ein wenig frivol. Über fünf Stunden hatten sie sich dort aufgehalten, und als sie sich voneinander verabschiedeten, wurde Maria von ihrer Mutter und ihrer Schwester herzlich umarmt.
Sie war glücklich, als sie sich auf den Weg nach Hause machte, denn sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als den Rest ihres Lebens mit Hans Schmidt zu verbringen, obwohl sie wusste, die Wahrscheinlichkeit, dass er vor ihr sterben würde, war groß. Sehr groß. Doch darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Es war noch früher Nachmittag und sie nur noch wenige hundert Meter von zu Hause entfernt, als sie beschloss, einen Ausflug nach Estoril zu machen, einem mondänen und doch pittoresken Küstenort etwa fünfundzwanzig Kilometer westlich von Lissabon. Sie wollte sich das Haus ansehen, das Hans Schmidt erst vor einem Monat gekauft hatte und das er gerade umbauen ließ. Sie hatte die Musik im Auto laut aufgedreht, das Schiebedach und beide Seitenfenster waren geöffnet, ihre Haare wehten im Fahrtwind. Sie fuhr schnell, schneller als erlaubt, denn sie wollte spätestens um achtzehn Uhr wieder zu Hause sein, um den Abend mit ihrem zukünftigen Mann zu verbringen. Das Ortsschild war bereits in Sichtweite, als wie aus dem Nichts ein Lkw aus einer Seitenstraße kam. Der Fahrer missachtete die Vorfahrt, Maria trat mit aller Kraft auf das Bremspedal und versuchte auszuweichen, doch es war zu spät. Sie raste unter die Ladefläche, der obere Teil des Wagens wurde bis zur Motorhaube abgerissen. Sie hatte keine Chance gehabt.
Laut Polizei war Maria auf der Stelle tot gewesen. Der Fahrer, ein älterer Mann, war angetrunken und wurde noch an der Unfallstelle festgenommen. Als Hans Schmidt von Marias Tod erfuhr, wurde alles in ihm zu Eis. Erst als die Polizisten, die ihm die Nachricht überbracht hatten, gegangen waren, sank er zu Boden, vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte. Er war nie in der Lage gewesen, Emotionen offen zu zeigen, sein Leben war von Disziplin und Selbstbeherrschung geprägt gewesen. Er hatte unzählige Masken getragen, daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern. Er trauerte still und klagte stumm Gott und die Welt an: »Warum Maria? Warum ausgerechnet sie? Warum nicht ich? Sie hat doch niemals auch nur einem Menschen weh getan! Warum sie, warum sie, warum sie? Warum nicht ich? Warum Maria und nicht ich? Warum, warum, warum?«
Auf all diese Fragen erhielt er keine Antwort. War es Schicksal, Zufall oder Fügung, dass ausgerechnet die Frau, die er am meisten liebte, so früh sterben musste? War es die Strafe für das, was er anderen Menschen über so viele Jahre hinweg angetan hatte? Warum wurde er ausgerechnet jetzt, da er sich von seinem alten Leben verabschiedet hatte, so hart bestraft? Warum war Maria so bestraft worden? Warum ihre Eltern und Geschwister? Warum hatte Maria sich überhaupt zu dem Ausflug nach Estoril entschlossen? Sie hatten doch vorgehabt, am nächsten Tag zusammen dorthin zu fahren, um zu sehen, wie weit die Bauarbeiten gediehen waren. Warum war sie gefahren, warum hatte sie nicht warten können? Er wusste, er würde es nie herausfinden. Eins war gewiss: Er würde für den Rest seines Lebens unter diesem Verlust leiden, still und unbemerkt, wie er seit dem Tod seiner Eltern gelebt hatte.
Den Abend und die Nacht nach Marias Tod verharrte er beinahe regungslos vor dem Kamin, der nie in Betrieb genommen worden war, ein wunderschöner Kamin, so, wie Maria ihn sich gewünscht hatte. Leise Fado-Musik, traurig und melancholisch, spielte, während Hans Schmidt die vergangenen Jahre mit Maria Revue passieren ließ und sich immer wieder die quälende Frage nach dem Warum stellte. Warum hatten sie sich kennengelernt, warum hatte er sich in sie verliebt, warum musste sie so früh sterben?
Mitten in der Nacht machte er Feuer. Er zog sich nackt aus, legte sich vor den Kamin und starrte in die Flammen. Als der Morgen anbrach, nickte er ein und wachte bereits zwei Stunden später wieder auf. Er trank eine Tasse Pfefferminztee und aß eine Banane, mehr brachte er nicht hinunter. Danach rief er Sarah Schumann an und berichtete ihr von dem Unglück.
Sie setzte sich in den nächsten Flieger, um ihm in dieser schweren Zeit zur Seite zu stehen, auch wenn es heimlich geschehen musste, weshalb sie wieder im Sheraton-Hotel abstieg. Er war froh, sie an seiner Seite zu wissen, obwohl auch Marias Eltern für ihn da waren und mit ihm litten, weinten und klagten und er ihnen nicht zeigen durfte, dass es noch eine andere Frau in seinem Leben gab. Es war ein unsichtbares, unzertrennliches Band, das ihn und Sarah Schumann seit fünfundzwanzig Jahren verband und das jetzt noch fester zu werden schien. Und doch verfluchte er seit Marias Tod sein Leben. Er verfluchte sich und seine Herkunft, er verfluchte alles, sogar Gott. Nur Sarah nicht.
Er ließ die Bauarbeiten in Estoril einstellen und verkaufte das Haus am Meer ebenso wie seine Villa in Lissabon. Zusammen mit Sarah Schumann zog er im September nach Nizza, wo sie beide ein Haus besaßen. Auch dort hatte er einen geheimen Raum, in dem er sämtliche Waffen und Unterlagen unterbrachte. Vielleicht würde der Tag kommen, an dem er die Waffen wieder herausholte. Vielleicht würde aus Hans Schmidt wieder Pierre Doux, Henry Jones, Martin Sanchez oder Michail Petrow werden.
Er schwor sich, niemals wieder einen Fuß auf portugiesischen Boden zu setzen. Er würde ein neues Leben beginnen, doch der Schmerz würde bleiben, solange er lebte. Schmerz, Hass, Wut und Zorn. Maria war die einzige wahrhaft große Liebe in seinem Leben gewesen, und es gab niemanden, der sie jemals würde ersetzen können, auch nicht Sarah Schumann.
Für Lisa Santos und Sören Henning hatte schon bald wieder der normale Alltag begonnen. Einzig der Tod von Marion Harms riss sie aus dieser Routine heraus. Anfang Mai schlief sie friedlich ein, vollgepumpt mit Medikamenten und in den letzten Wochen ihres Dahinsiechens nicht mehr ansprechbar. Volker hatte die meiste Zeit bei ihr verbracht, zweiunddreißig Jahre Ehe konnte er nicht einfach ausblenden. Er hatte sie geliebt, und nun trauerte er. Nach ihrem Tod und ihrer Beerdigung nahm er sich zwei Monate Urlaub und flog ans andere Ende der Welt, nach Australien. Abschalten, nachdenken, sich besinnen und zur Ruhe kommen.
Lisa Santos besuchte wieder regelmäßig ihre Schwester im Pflegeheim, diese immer noch so hübsche Frau, die ein solch grausames Schicksal erlitten hatte. Vergewaltigt von mehreren Männern, fast zu Tode geprügelt und erst im letzten Augenblick gerettet. Doch es war zu spät gewesen, ihr Gehirn war zu lange ohne Sauerstoff gewesen.
Im Juli flogen Lisa Santos und Sören Henning nach Spanien, wo Lisas Wurzeln lagen. In dem wunderschönen Haus ihrer Eltern am Meer verbrachten sie vier traumhafte Wochen. Sie mussten Kraft tanken, denn irgendwann würden sie in die brutale Wirklichkeit zurückkehren. Daran dachten sie jedoch nicht, wenn sie abends auf der Terrasse saßen und auf das Meer blickten. Manchmal unterhielten sie sich über den unbekannten Mann, der ihnen das Leben gerettet hatte, ein Auftragsmörder, der zu ihrem Schutzengel geworden war. Sie würden nie begreifen, was in diesem Mann vorging, sie wussten nur, er war ein Mensch und doch ein Phantom, unbegreiflich und unfassbar. Sie würden nie erfahren, von wem die DNA stammte, die an so vielen Tatorten gefunden worden war, auch noch, nachdem der Innenminister vor die Mikrofone und Kameras getreten war, um zu bekunden, sie stamme von kontaminierten Wattestäbchen. Und sie unterhielten sich über Karl Albertz. Warum hatte er ihnen so viele Informationen zukommen lassen über die Strukturen seiner kriminellen Vereinigung? Warum hatte er so viel Persönliches preisgegeben? Warum wollte er, dass sie Friedmann und Müller töteten? Warum wollte er, dass Friedmann und Müller sie töteten? Hatte er Sarah Schumann wirklich geliebt, oder wollte er sie nur besitzen, diese schöne, charismatische Frau? Es gab viele Fragen zu Albertz, doch auf keine fanden sie eine befriedigende Antwort. Ihn würden sie nicht mehr fragen können. Sie kamen zu dem Schluss, dass er ein Spieler gewesen war, doch das Spiel selbst hatten sie nicht verstanden und würden es wohl nie verstehen.
Henning und Santos waren kaum noch in der Lage, Lüge und Wahrheit zu unterscheiden, weshalb sie sich in Zukunft nur noch ihrem eigentlichen Beruf, der Jagd nach Vermissten, Totschlägern und Mördern widmen wollten. Sofern man sie ließ. Doch erst würden sie sich erholen und nicht über die Zukunft nachdenken, die kam noch früh genug. Viel zu früh.